Wenn der Druck steigt - so überstehen wir bedrohliche Situationen

In der Physiologie geht man von folgendem Sachverhalt aus:

 

Wenn damals, in der Steinzeit, ein Neandertaler auf einen Säbelzahntiger traf, dann hatte er genau zwei Möglichkeiten zu reagieren: Kampf oder Flucht. Die Entscheidung für Kampf oder für Flucht war keine lang durchdachte Überlegung, sondern geschah in Sekundenbruchteilen, unbewusst.

 

Wie ist das heute?

 

Eine bedrohliche Situation erzeugt Druck. Diesen Druck nehmen wir körperlich betrachtet durch unser Nervensystem wahr.

 

In unserem Körper gibt es kurz gesagt das willkürliche und das unwillkürliche Nervensystem. Das unwillkürliche Nervensystem wiederum, besteht aus

  •  dem Sympathikus,
  •  dem Parasympathikus und
  •  dem Darmnervensystem.

Die meisten unserer Organe werden durch Para- und Sympathikus gesteuert.

 

In Situationen, in den wir stark unter Druck stehen, sorgt der Sympathikus dafür, dass das Stresshormon Adrenalin ausgeschüttet wird. Das Adrenalin fährt unsere Körperfunktionen blitzschnell auf einen „Überlebensmodus“ herunter. Unsere Aktionsfähigkeit wird auf Flucht oder Kampf konzentriert, weil alles andere erst einmal nicht wichtig ist.

 

Die (Trauma)Psychologie hat zu diesen beiden Reaktionen noch eine dritte hinzugefügt: das Erstarren.

 

Durch Beobachtungen im Tierreich wurde deutlich: Tiere flüchten nicht nur, sie kämpfen nicht nur, sondern sie fallen auch in eine Starre, damit der Angreifer von ihnen ablässt.

 

Diese These wurde auf den Menschen übertragen. Wissenschaftlich betrachtet verfügt jeder Mensch aus seinem Ur-Instikt heraus über diese drei Möglichkeiten: Kampf – Flucht – Erstarrung.

 

Alle drei Möglichkeiten dienen dem Überstehen einer bedrohlichen Situation.

 

Jede dieser Reaktionen wird unbewusst gewählt.

 

Jede dieser Möglichkeiten dient dazu das eigene Leben zu sichern.

 

In der Entwicklungspsychologie hat man herausgefunden, dass jeder von uns in seiner Lebensgeschichte gelernt hat, mit welcher Methode er am ehesten eine Situation unbeschadet übersteht. Dies ist je nach Lebenserfahrungen ganz unterschiedlich.

 

Das eigene Selbst ist im Laufe seiner Entwicklung immer wieder seelischen Verletzungen ausgesetzt. Der eine wurde tiefer verletzt, der andere weniger massiv. Dennoch ist unbestritten, dass jeder Mensch (geistige, seelische, körperliche) Verletzungen in seiner Kindheit erlebt. Hier lernen wir unbewusst, mit welcher Reaktionsmöglichkeit wir am ehesten diese Situationen überstehen. Auch im Laufe unseres weiteren Lebens werden uns immer wieder Wunden und Kratzer zugefügt. Hier wiederholen wir dann die unbewusst präferierte Reaktionsmöglichkeit.

 

Was bedeuten diese drei Varianten nun konkret?

Was bedeutet kämpfen, was flüchten, was erstarren?

 

Diese Reaktionen müssen wir nicht wörtlich nehmen. Vielmehr müssen wir die Varianten bildlich zuordnen.

Ein Mensch, der auf Kampf ausgerichtet ist, wird vielleicht sehr aktiv in Konfrontationen gehen. Dafür wird er sich in bedrohlichen Situationen vielleicht sehr belesen, sich stark in sozialen Medien informieren, Wissen aufsaugen und weiterverbreiten. Wenn der „Überlebensmodus“ anspringt, geht das auf Kosten der Überprüfung von Informationen. Informationen werden geteilt, ohne sie zu verifizieren.

 

Ein Mensch, der eher flüchtet, wird sich vielleicht gar nicht mit Informationen beschäftigen, sondern stark ablenken. Er wird vielleicht ein Buch nach dem anderen verschlingen, Serien bingen, sich Kopfhörer aufsetzen und in Musikwelten abdriften. Wer flüchtet negiert vielleicht Fakten, verharmlost, verleugnet und beamt sich mit dem Mittel seiner Wahl weg.

 

Ein Mensch in Erstarrung wird vielleicht körperlich sehr träge. Er informiert sich vielleicht nur durch eine Informationsquelle, aus der Unfähigkeit heraus aus der gefühlten Lethargie etwas anderes zu suchen. Je nach Informationsquelle, wird ihn das mehr oder weniger in Panik bringen. Das Gefühlsleben ist vielleicht abgedämpft. Wie in Watte gepackt, dringt weniger an ihn heran. Emotional fühlt er sich leer – oder leblos, kraftlos. Kann nichts so recht greifen und weiß vielleicht auch gar nicht, was gerade mit ihm los ist.

 

Reagieren wir nur auf eine Art und Weise?

 

In Zeiten, wo eine Bedrohung von außen suggeriert wird oder tatsächlich vorhanden ist, springen diese drei Varianten an. Da es sich um ein Erklärungsmodell handelt, existieren die Reaktionsmöglichkeiten nicht immer in Reinform. Oft merken wir: wir neigen zu allen Reaktionsmöglichkeiten: Zum Beispiel 50% Kampf, 20% Flucht, 30% Erstarrung. Die Varianten können sich abwechseln.

 

Was kannst du konkret für dich tun?

Es kann hilfreich sein, sich seiner eigenen Reaktionsvariante bewusst zu werden. Wenn wir uns selbst besser verstehen, können wir liebvoller mit unseren Verhaltensweisen umgehen.

Vielleicht hast du gerade ja genau das Gefühl in Watte zu sitzen und verstehst nicht was los ist. Dann ist es vielleicht hilfreich, dass du merkst, dass du dich unbewusst stärker bedroht fühlst, als dir klar ist.

 

Wir alle dürfen Angst fühlen. Wir alle dürfen uns Unterstützung suchen.

 

Vielleicht merken wir auch mehr, dass uns gerade der Umgang mit bestimmten Menschen oder Medien nicht guttut und dass wir einen Gegenpol benötigen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Wir können uns also umsehen und recherchieren, was uns nun hilft, was uns bestärkt.

 

Was kannst du konkret für andere tun?

Vielleicht haben wir in unserem Umfeld auch jemanden, bei dem wir eine der drei Verhaltensweisen sehr deutlich erkennen. Auch hier hilft es uns, den anderen besser zu verstehen.

 

Wir kennen vielleicht jemanden, der sich sehr abwesend verhält. Das kann sehr hilflos machen, gerade dann, wenn es sich um nahestehende Personen handelt. Vielleicht merkt der andere gar nicht, dass er Angst hat.

 

Also können wir unser Verhalten überdenken: muss ich demjenigen die neuesten Nachrichten mitteilen – oder wechsle ich mal das Thema, um für Ablenkung zu sorgen. Treffe ich mit dem anderen vielleicht eine Vereinbarung, sich nur noch zwei Mal am Tag zu informieren. Oder informiere ich mich und teile dem anderen dann alles, was wichtig ist, unaufgeregt mit, ohne dass er selbst etwas lesen muss.

 

Und wenn du gar nicht weiter weist:

 

Dann such dir professionelle Unterstützung. Über Telefonseelsorge, Beratungsstellen vor Ort oder psychotherapeutische Angebote. Du musst nichts alleine tragen. Es gibt Menschen, die helfen dir dabei.