Täterbeschwichtigung – ein Schutzmechanismus, der das eigene Überleben sichert

In diesem Artikel möchte ich über ein sehr wichtiges Thema schreiben, welches gerade bei Fachkräften, die mit Menschen, die Traumatisierung erlebt haben, arbeiten, immer wieder zu kurz kommt. Das Wissen um das Thema Täterbeschwichtigung scheint noch nicht so weit verbreitet zu sein. Daher ist dieser Artikel eher für Fachpersonal geschrieben.

 

Wenn du selbst Gewalterfahrungen durchleben musstest, dann überlege dir bitte, ob du dir diesen Text durchliest, da ich hier in einem Beispiel explizit auch Gewalterfahrungen anspreche.

 

 

Bevor ich mit dem eigentlichen Thema Täterbeschwichtigung beginne, erläutere ich vorab ein paar meiner Grundannahmen.

 

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass jeder Mensch leben will. Punkt.

 

Niemand möchte wirklich sterben.

 

Wenn jemand sagt, er will nicht mehr leben, dann liegt unausgesprochen in diesem Satz der Gedanke: „Ich will so nicht mehr leben.“. Menschen, die leidvolle Situationen erleben mussten oder denen Gewalt angetan wurde, können sich an einem Punkt befinden, an dem sie sagen:

 

„Ich habe das alles erlebt,

ich fühle mich furchtbar,

so habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt,

ich sehe keinen Ausweg,

es scheint für mich nichts anderes zu geben als dieses Leid – und so möchte ich nicht mehr leben.“.

 

Ihnen fehlt die Hoffnung, dass es für sie anders sein könnte. Und dann sagen sie selbstverständlicherweise: „Ich will (so) nicht mehr leben“.

 

Aber das beinhaltet:

 

„Wenn mein Leben anders verlaufen würde,

wenn ich diese schlimmen Erinnerungen nicht mehr hätte,

wenn ich den Schmerz nicht mehr fühlen würde,

dann würde ich leben wollen und mein Leben nach meinen Wünschen gestalten.“.

 

Also, meiner Überzeugung nach will jeder Mensch leben.

 

Wenn eine Person in Lebensgefahr ist, springt daher auch automatisch der Überlebenswille an. Grundsätzlich. Und jeder Mensch verfügt über bestimmte Schutzmechanismen, die ihm zur Verfügung stehen, wenn dieser Überlebenswille anspringt. Schutzmechanismen laufen dann reflexartig ab. Niemand muss über einen von Natur aus vorhandenen Schutzmechanismus nachdenken, und ihn aktiv anwenden, sondern dieser Mechanismus läuft ab, wenn z.B. jemand in Not ist.

 

Täterbeschwichtigung zählt auch zu den Schutzmechanismen, die anspringen, wenn das eigene Leben bedroht ist.

 

Beschwichtigung kennen wir alle: Umgangssprachlich würden wir das als „Beruhigung“ benennen. Jemand ist sehr außer sich, vielleicht auch aggressiv und wir überlegen uns:

 

„Wie können wir diese Person beruhigen?

Was kann ich tun, damit derjenige weniger aggressiv ist?“.

 

Wir versuchen dann, ein Verhalten einzudämmen, unabhängig davon, ob das Verhalten des anderen berechtig ist oder nicht. Aber wir kennen den Versuch, den anderen zu beruhigen und die Überlegungen, was das Mittel der Wahl wäre, um dies zu erreichen: „Was könnte jetzt helfen?“.

 

 

Bei dem Begriff Täterbeschwichtigung kommt aber ein wesentliches Wort dazu: Täter.

 

Und damit herrscht zwischen zwei Personen ein Ungleichgewicht. Bei einer Täter-Opfer-Konstellation gibt es keine gleichberechtigte Ebene zwischen Täter und Opfer. Der Täter ist in dem Moment der Tat stärker als das Opfer und kontrolliert damit die Situation. Und der Täter macht, was er will. Sonst wäre er kein Täter.

 

 

Ich erkläre dir das an einem Beispiel:

 

Ein Junge wächst in einem Elternhaus auf, in dem der Vater seinen Sohn schlägt. Vater kommt jeden Abend nach der Arbeit nach Hause und regelmäßig wird der Sohn abends geschlagen.

 

Nehmen wir an, an einem Abend, kommt Vater nach Hause, ist wütend und brüllt seinen Sohn an, ihm sofort ein Bier zu holen. Der Sohn läuft sofort los, um das Bier zu holen und seinem Vater zu bringen. Vater setzt sich vor den Fernseher, trinkt sein Bier und regt sich über irgendetwas auf. Er ist abgelenkt. Heute ist er selbst nicht „in der Stimmung“, seinen Sohn zu schlagen, er fühlt sich zu erschöpft.

 

In meinem Beispiel lernt der Junge nun folgendes: ‚Wenn mein Vater Bier trinkt und fernsieht, dann ist er von mir abgelenkt und dann schlägt er mich nicht.‘.

Er „überlegt“ – und überlegt ist natürlich nicht der exakte Begriff, weil das kein aktiver gedanklicher Vorgang ist – was er tun kann, damit Vater ihn abends, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, nicht schlägt. Der Junge schlussfolgert, wenn er seinem Vater ein Bier bringt und den Fernseher anschaltet, dann wird Vater abgelenkt sein, dann wird er selbst nicht geschlagen.

 

Wenn Vater am nächsten Abend nach Hause kommt, läuft bereits der Fernseher und neben dem Sessel steht eine Flasche Bier. Der Sohn hat bereits alles vorbereitet.

 

In diesem Beispiel wäre das Täterbeschwichtigung.

 

Der Junge in meinem Beispiel hat sich „überlegt“: ‚Was ist das Mittel der Wahl? Wie kann ich der Gewalt entkommen? Wie kann ich überleben?‘. Der Junge reagiert aus seinem Überlebenswillen heraus und der Schutzmechanismus der Täterbeschwichtigung springt automatisch an.

 

Aber hat der Junge das Verhalten seines Vaters tatsächlich beeinflusst? Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Junge, das Verhalten tatsächlich beeinflussen kann und Vater durch den eingeschalteten Fernseher und das Bier davon abbringen kann, ihn zu schlagen.

 

 

Tatsächlich ist das aber nicht so.

 

Bleiben wir mal bei meinem Beispiel: Vater schlägt seinen Sohn an diesem Abend nicht, weil er zu erschöpft ist. Das hat mit dem Verhalten des Sohnes nichts zu tun. So wie es nie etwas mit dem Opfer zu tun hat, wenn der Täter schlägt. Der Täter schlägt, wenn er will, und er lässt es sein, wenn er es sein lassen will.

 

Die Gründe, wieso Vater schlägt, können vielfältig sein. Ein Grund kann z.B. sein, weil er „Dampf ablassen“ will.

 

Von außen sieht es so aus, als ob der Junge das Verhalten seines Vaters steuern könnte. Aber ein Kind bzw. ein Opfer kann einen Täter nicht steuern. Vielleicht schlägt der Täter heute nicht zu – aber das liegt nicht am Opfer, sondern an der Entscheidung des Täters. Morgen ist ihm vielleicht das Bier zu warm oder der Fernseher zu laut oder was auch immer – und er schlägt wieder zu. Das ist so, weil ein Täter tut, was er will.

 

Täter können aber natürlich täterbeschwichtigendes Verhalten ihrer Opfer genießen. Z.B. könnte Vater es genießen, wenn er seinen Sohn gedemütigt sieht, und Vater findet es vielleicht auch sehr gut, dass abends sein Bier unaufgefordert vor ihm steht. Er vermittelt also seinem Sohn / seinem Opfer gezielt, dass ihm das gefällt und dass der Sohn das gut macht. Das wiederrum hinterlässt bei dem Opfer natürlich den Eindruck, dass sein Verhalten tatsächlich das Verhalten von seinem Täter kontrollieren kann. Das ist aber ein Trugschluss. Weil wie gesagt: Ein Opfer kann das Verhalten des Täters nicht kontrollieren.

 

 

Um das nochmal klar zu verdeutlichen:

 

Täterbeschwichtigung bedeutet nicht, irgendetwas zu machen. Sondern Täterbeschwichtigung ist für das Überleben absolut wichtig. Die Not dahinter ist extrem hoch.

 

Ein Opfer versucht nicht, ein „bisschen was zu tun“, um einen Täter zu beschwichtigen, sondern sein Überleben hängt davon ab. Und demnach muss das Verhalten des Opfers überzeugend sein und ein Opfer muss die Vorlieben seines Täters genauestens kennen. In dieser Not verhalten sich Opfer auf eine Art und Weise, die von außen betrachtet mehr als ungewöhnlich wirken kann. Aber nur dann, wenn man nichts über Täterbeschwichtigung weiß.

 

Bei dem Thema, welche Vorlieben ein Täter hat und was ein Opfer lernt, tun zu müssen, um das Verhalten eines Täters vermeintlich beeinflussen zu können, gibt es keine Grenzen.

 

Ein Täter kann es mögen, wenn das Opfer sehr leise ist. Ein Täter kann es aber auch mögen, wenn das Opfer sehr laut ist und „wild“. Ein Täter kann es mögen, wenn sein Opfer klein und schwach und „dumm“ ist. Oder er kann es mögen, wenn sein Opfer brilliert, ehrgeizig ist, ein 1A-Schüler.

 

Und dementsprechend wird sich das täterbeschwichtigende Verhalten eines Opfers ausrichten.

 

 

Ich finde es, so wichtig, das Thema Täterbeschwichtigung zu verstehen. Wenn Fachkräfte dieses Thema begreifen, können wir alle das Verhalten von Opfern besser verstehen. Denn dann können wir täterbeschwichtigendes Verhalten erkennen, wir können Signale sehen und dann den Opfern helfen. Wir können endlich auch ein auf den ersten Blick vielleicht widersprüchliches Verhalten einsortieren und damit einem Opfer auch endlich mitteilen, dass wir ihm glauben können. Wenn bei dem einen oder anderen vorher vielleicht Zweifel waren, weil das Verhalten so widersprüchlich war (z.B., weil ein missbrauchtes Kind seinem Täter immer wieder sagt, wie lieb es ihn hat), können wir alle nun endlich den Opfern an der Seite stehen und zeigen: „Dein Verhalten macht in der Situation total Sinn. Ich glaube dir. Ich kann dir hier raushelfen.“.

 

Und das ist eines meiner größten Anliegen.

 

 

Wenn du durch diesen Artikel neue Impulse erhalten hast oder Fragen auftauchen, dann lass es mich gerne wissen.