Parentifizierung - Der unsichtbare Missbrauch

Wie greift man das Unsichtbare?

Blätter mit spitzen Enden

In einem liebevollen Elternhaus sind die Rollen ganz klar verteilt: Der Erwachsene ist für das Kind zuständig. Der Erwachsene versorgt die körperlichen Bedürfnisse nach Nahrung und Schlaf sowie auch die emotionalen Grundbedürfnisse wie Geborgenheit und Sicherheit. Der Erwachsene schützt sein Kind. Das Kind ist ein sogenannter Schutzbefohlener. Und der Erziehungsberechtigte sorgt dafür, dass das Kind erwachsenen werden kann. Das Kind soll ein mündiger Erwachsener werden.

 

Bei einer Form der emotionalen Misshandlung werden diese Rollen aufgeweicht und vertauscht. Diese Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern nennt man Parentifizierung.

 

Opfer einer Parentifizierung sehen sich selbst auch rückblickend nicht als Opfer. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch nicht von Tätern sprechen, sondern von giftigen Elternteilen und ich möchte dir die Situation der Kinder an folgendem Beispiel verdeutlichen.

 

Beispiel für Parentifizierung

Eine Mutter lebt alleinerziehend mit ihren zwei Kindern. Sie selbst ist an Depressionen erkrankt und ist fast nur zuhause. Krankheitsbedingt kann sie kaum aus dem Bett aufstehen und selbst wenn sie es schafft aufzustehen, hat sie keine Kraft etwas zu tun. Sie kann nicht den Haushalt machen, sie kann sich kaum selbst anziehen. Das Leben erscheint ihr trostlos.

 

Das älteste Kind ist bereits im Schulalter. Es steht morgens auf, wenn der Wecker klingelt. Es macht sich ein Pausenbrot und geht zur Schule. Wenn es wieder nach Hause kommt, sieht es kurz nach, ob Mutter und das Geschwisterkind zuhause sind. Natürlich sind sie zuhause, wo sollten sie auch sonst sein. Aber geht es ihnen auch gut? Das Kind vergewissert sich, dass es beiden gut geht. Es geht in die Küche und macht sich selbst, seiner Mutter und seinem Geschwister etwas zu essen. Im Anschluss räumt es die Küche auf und erledigt kurz den Einkauf. Es verräumt die Lebensmittel und setzt sich an seine Hausaufgaben, die es noch für morgen erledigen muss. Zwischendurch sieht es nach der Mutter. Es sieht, dass Mutter traurig ist und erzählt ihr daraufhin etwas Lustiges, das in der Schule passiert ist. Mutter lächelt für einen kleinen Moment und das Kind weiß, dass es geschafft hat, dass Mutter einen Moment lang nicht traurig ist. Das Kind geht an sein Smartphone und spielt ein Spiel. Später bringt es sein Geschwisterkind zu Bett und setzt sich dann zu Mutter, um mit ihr Fernzusehen. Mutter lächelt das Kind müde an: „Wie gut, dass ich dich habe.“, sagt sie, wo sie nur selten etwas sagt. Das Kind streicht Mutter über den Kopf und geht dann in sein Bett. Der Tag ist zu Ende. Morgen gibt es wieder viel zu erledigen.

 

Wenn Eltern krank sind – und hierunter fallen nicht nur psychische (Sucht-)Erkrankungen, sondern auch chronische körperliche Krankheiten, die zu starken Einschränkungen oder sogar einer Pflegebedürftigkeit führen – dann würden wir sie nicht als Täter bezeichnen. Wir sehen, dass sie selbst sehr leiden und für ihren Umstand selbst nichts können. Manchmal waren sie selbst Opfer von Gewalt oder Opfer der Umstände wie z.B. bei Krankheiten.

 

Wenn diese Eltern aber Kinder haben, dann hat das offensichtlich Auswirkungen auf deren Kindheit. Und dies anzuerkennen, fällt sowohl den Eltern wie auch den Kindern sehr schwer. Denn Opfer von Parentifizierung verteidigen ihre Eltern sehr stark. Ihnen fällt es wohl mit am schwierigsten sich selbst als Opfer zu sehen.

 

Dabei geht es bei der Parentifizierung nicht darum, dass Kinder ein paar Aufgaben im Haushalt übernehmen müssen, sondern dass die Eltern oder ein Elternteil eine komplette Rollenumkehr durchführt. Da die Rollenumkehr so selbstverständlich gelebt wurde, haben die erwachsenen Kinder Schwierigkeiten zu erkennen, dass die Rollen vertauscht wurden. Sie können es nicht wahrnehmen. Daher sprechen sie in der Regel gar nicht darüber, was sie in ihrer Kindheit leisten mussten.

 

Werden sie dann von außen darauf aufmerksam gemacht, dann betonen sie immer wieder die Zuneigung zu ihrem Elternteil. Sie betonen die Hilfsbedürftigkeit ihrer Eltern und wie wenig schwer es ihnen als Kind gefallen ist, die Aufgaben zu übernehmen. Im Gegenteil. Eher sprechen sie über die vermeintlich positiven Aspekte ihrer „Erziehung“: „Ich war schon früh selbstständig. Es hat mir nicht geschadet. Ich konnte schon mit vier Jahren ein Spiegelei braten, das können andere noch nicht mal mit 20! Mir musste niemand irgendwas hinterhertragen. Und ich habe es ja auch gerne gemacht. Meine Mutter konnte ja nicht. Ich habe ihr gern geholfen. Und so viel Arbeit war es nicht.“

 

Die Überforderungen in der Kindheit werden gar nicht ernst genommen. Und was bedeutet schon Überforderung? Betroffene versichern schnell: „Ich habe ja immer alles geschafft! Ich war nie überfordert.“

 

Und in der Tat waren sie es, die den Laden am Laufen gehalten haben.

 

Deshalb ist diese Form von Missbrauch so schwer zu greifen. Es ist das nicht gesehene Unrecht, weil es vermeintlich weder die Tat noch den Täter gab.

Kindliche Entwicklungsstufen

Jedes Individuum durchlebt bestimmte Entwicklungsphasen, in deren Lebensabschnitt es eine bestimmte Entwicklungsaufgabe lernen soll. Wir sehen das beim Säugling, der z.B. irgendwann beginnt zu robben, zu kriechen, zu sitzen, zu krabbeln und schlussendlich zu stehen. Die einzelnen Schritte folgen aufeinander, bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer, bei dem einen mit mehr Unterstützung von außen, bei dem anderen mit weniger. Neben den körperlichen Fähigkeiten gibt es aber auch Entwicklungsstufen in der kognitiven, sprachlichen und sozio-emotionalen Entwicklung.

 

Das Kind (und später auch der Jugendliche) lernt u.a. seine individuellen Fähigkeiten – auch Talente genannt –, es lernt seine Vorlieben, seine Wünsche kennen. Es lernt zu erkennen, was ihm Freude macht und was nicht.

 

In der Kindheit der Betroffenen von Parentifizierung werden die kindlichen geistigen, emotionalen und körperlichen Entwicklungsstufen durch das giftige Elternteil ignoriert. Bei der Parentifizierung steht nicht die Entwicklung des Kindes im Vordergrund, sondern das Elternteil nimmt den Platz ein.

 

Unabhängig von den jeweiligen Gründen - z.B. chronische körperliche Krankheiten oder psychische Erkrankungen - steht das Elternteil mit seinen Gefühlen, seinen Belangen und seiner Hilfsbedürftigkeit im Vordergrund. Es geht dabei nicht darum, ob das Kind helfen möchte oder nicht – es muss.

Denn sonst ist niemand da, der es macht.

Die Folgen von Parentifizierung

Die Folgen sind massiv. Es kann sein, dass ein Betroffener gar nicht lernt zu erkennen, was seine eigenen Bedürfnisse sind. Dazu gehören die Grundbedürfnisse wie Essen und Schlafen. Betroffene können also Schwierigkeiten damit haben, zu erkennen wann sie Hunger haben oder wann sie müde sind. Sie können sich körperlich stark überfordern, weil sie ihre Grenzen gar nicht spüren, denn schon damals wurden die körperlichen Grenzen durch die Eltern ignoriert. Da sie aber auch nicht kennengelernt haben, was ihnen Freude macht und sie erfüllt, wissen sie später nicht so viel mit ihrer Freizeit anzufangen, denn sie wissen gar nicht, durch was sie Freude empfinden.

 

Je nachdem können Betroffene auch von ihrem Elternteil lernen, dass es grundsätzlich keinen Grund gibt, sich zu freuen. Denn das Elternteil fühlt z.B. stets nur Trauer. Betroffene können regelrecht Schuldgefühle haben, wenn es ihnen mal gut geht – denn ihrem Elternteil ging es nie gut, wieso also dann ihnen?

 

Die Folgen für Betroffene sind gravierend, weil eine große Leere zurückbleibt. Obwohl sie sich immer um einen anderen gekümmert haben, oder auch kümmern mussten, fühlen sie eine große Einsamkeit, die sie oft nicht einordnen können. Sie verstehen nicht, dass sie selbst immer allein dastanden und dass sich um sie nie jemand ausführlich gekümmert und gesorgt hat.

 

Der erwachsene Betroffene wurde in seiner Kindheit als Pfleger eingesetzt, als Haushaltshilfe oder auch als vermeintlicher Freund. Vermeintlicher Freund deshalb, weil Freundschaft eine gewisse Ebenbürtigkeit voraussetzt. Fehlt diese, gleicht das Verhältnis zueinander eher einer Betreuung. Das Kind ist Schutzbefohlener. Ein Kind muss immer umsorgt, geschützt und gefördert werden. Als vermeintlicher Freund müssen sich Betroffene stattdessen die Geschichten ihres Elternteils anhören. Wenn diese selbst Gewalt erlebt haben und Opfer waren, berichten sie nicht selten ihren Kindern – ihren „Freunden“ – davon. Sie erzählen, wie schwer sie es im Leben hatten und schütten ihren Kindern, die weder die Reife noch den inneren Halt für solche Lebensgeschichten haben – ihr Herz aus. Damit vermitteln sie ihren Kindern, dass sie weder auf sich noch auf das Kind werden aufpassen können. Denn sie sagen ihrem Kind: „Ich konnte mich nicht schützen, ich war Opfer. Und ich bin es immer noch.“ Und Kinder tun in diesem Moment das, was Kinder immer tun. Sie wissen: „Wenn Mama sich selbst und mich nicht schützen kann, dann übernehme ich das für uns beide.“ Denn Kinder versuchen immer stark zu sein und selbst den Schutz zu geben, den sie eigentlich bräuchten.

Abhängigkeiten und Schuldgefühle

Elternteile machen sich damit abhängig von ihren Kindern und vereinnahmen sie in ihrer Abhängigkeit. Das Kind wird nicht zum mündigen Erwachsenen, sondern soll Teil des eigenen Lebens sein und bleiben. Denn das Kind verkörpert das eigene Leben. Nicht selten vermitteln diese Elternteile: „Ohne dich würde ich nicht mehr leben. Du rettest mich.“ Damit binden sie auch ihre Erwachsenen Kinder maximal an sich. Betroffene lernen: „Ich darf nicht gehen, ich darf mich nicht befreien, denn sonst stirbt mein Elternteil.“

 

Und weil jeder Betroffene sein Elternteil auch liebt, vermischt sich diese Liebe mit der Abhängigkeit. Für Betroffene ist diese Vereinnahmung und die überbordende Verantwortung durch die Eltern unglaublich schwierig zu erkennen. Sie sehen ihre Aufgaben als selbstverständlich an, eben das, was man für einen anderen tut, wenn man sich liebt.

 

Der Unterschied zu einer gesunden Elternbeziehung liegt darin, dass Elternteile sich für ihre erwachsenen und mit ihren erwachsenen Kindern freuen, wenn diese ein glückliches, eigenverantwortliches Leben führen und ihre Freiheiten wahrnehmen.

 

Ein giftiges Elternteil hingegen beginnt zu trauern, wenn das erwachsene Kind Glück erfährt und Unabhängigkeit. Es wird seinem Kind Schuldgefühle vermitteln und ihm verbal oder nonverbal mitteilen, dass das Kind ihn allein zurücklässt, ohne Spaß, ohne Liebe. Und selbst wenn die erwachsenen Kinder beteuern, dass sie ihr giftiges Elternteil nie werden allein lassen, so haben sie doch das Gefühl nicht genug zu tun, sondern die Verpflichtung zu haben, dem Elternteil die Freude im Leben zu sein. Der Gedanke ist stets: „Was kann ich tun, damit du glücklich bist?“ Und sie haben gelernt, dass ihr Sein allein nicht ausreicht. Es müssen Taten folgen.

Was müssten Eltern tun, um sich nicht giftig zu verhalten?

Doch was können Elterneile, die eine (Sucht-)Erkrankung haben, tun, um keine giftigen Eltern zu sein?

 

Sie müssen sich ganz klar in ihrer Rolle als Eltern abgrenzen lernen. Ihnen muss klar sein, dass sie die Verantwortung für ihr Kind tragen und nicht umgekehrt.

 

Sie dürfen ihren Kindern nicht die Last ihrer eigenen Erfahrungen aufbürden und sie mit Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit beschweren. Kinder müssen sich von ihren Eltern geschützt fühlen und dürfen ihre Eltern nicht als Opfer sehen. Eltern müssen – sofern sie selbst Opfer waren – sich eine erwachsene Hilfe suchen, um mit dieser über ihre Erlebnisse zu sprechen und ihre ggfls. traumatischen Erfahrungen aufzuarbeiten. Das heißt nicht, dass Eltern ihren Kindern gegenüber unfehlbar auftreten müssten oder ihnen nicht auch zeigen dürfen, dass sie als Eltern nicht alles können und nicht alles wissen. Im Gegenteil. Eltern dürfen ihren Kindern sagen, dass bei ihnen manche Dinge nicht klappen, um ihren Kindern dann zu zeigen, wie ein verantwortungsvoller Umgang damit aussehen kann. Daraus wiederrum können Kinder lernen. Aber Eltern dürfen ihre Kinder weder als Pfleger noch als Freund benutzen. Kinder sollen z.B. nichts über die Eheprobleme ihrer Eltern hören. Sie sollen weder vermitteln noch ihre Eltern bei Laune halten. Sie sollen nicht für gute Stimmung sorgen und den Pausenclown spielen müssen, um das Zuhause am Laufen zu halten. Eltern sind für die Erziehung ihrer Kinder da – nicht umgekehrt!

 

 

Doch für die erwachsenen Opfer von Parentifizierung ist dies schwer zu begreifen. Da sie es nie anders kennengelernt haben, ist es für sie ganz normal sich um ihre Eltern zu kümmern. Und sie werden es auch weiterhin tun, wenn sie sich nicht trauen zu erkennen, was sie erleiden mussten.